Die Geschichte von Herrn Sommer by Süskind Patrick

Die Geschichte von Herrn Sommer by Süskind Patrick

Autor:Süskind, Patrick [Süskind, Patrick]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Ich weiß nicht mehr, wie lange ich brauchte, um die unheimliche Kunst des Radfahrens zu erlernen. Ich weiß nur noch, daß ich’s mir selber beigebracht habe, mit einer Mischung aus Widerwillen und verbissenem Eifer, auf dem Fahrrad meiner Mutter, in einem leicht abschüssigen Hohlweg im Wald, wo mich keiner sehen konnte. Die Böschungen dieses Weges standen zu beiden Seiten so dicht und so steil, daß ich mich jederzeit abstützen konnte und ziemlich weich fiel, ins Laub oder in lockere Erde. Und irgendwann einmal, nach vielen, vielen gescheiterten Versuchen, fast überraschend plötzlich, hatte ich den Dreh raus. Ich bewegte mich, all meinen theoretischen Bedenken und meiner tiefen Skepsis zum Trotz, frei auf zwei Rädern: ein verblüffendes Gefühl und ein stolzes! Auf der Terrasse unseres Hauses und dem angrenzenden Rasen absolvierte ich vor versammelter Familie eine Probefahrt, wofür ich den Beifall meiner Eltern und das schrille Gelächter meiner Geschwister erntete. Anschließend wies mich mein Bruder in die wichtigsten Regeln der Straßenverkehrsordnung ein, zuvörderst in die Regel, immer strikt rechts zu fahren, wobei rechts als diejenige Seite definiert war, wo sich die Handbremse an der Lenkstange befand1), und von da an fuhr ich mutterseelenallein einmal in der Woche zu Fräulein Funkel in die Klavierstunde, Mittwoch nachmittags von drei bis vier. Freilich, von den dreizehneinhalb Minuten, die mein Bruder zur Bewältigung der Strecke veranschlagt hatte, konnte bei mir gar keine Rede sein. Mein Bruder war fünf Jahre älter als ich und besaß ein Fahrrad mit Rennlenker und Dreigangkettenschaltung. Ich hingegen radelte im Stehen auf dem viel zu großen Fahrrad meiner Mutter. Selbst wenn man den Sattel ganz herunterschraubte, konnte ich nicht gleichzeitig sitzen und in die Pedale treten, sondern nur entweder treten oder sitzen, was zu einer äußerst ineffizienten, ermüdenden und, wie mir bewußt war, auch durchaus lächerlich anzusehenden Fahrweise zwang: Im Stehen strampelnd mußte ich das Rad auf Touren bringen, mich bei voller Fahrt in den Sattel wuchten, dort auf schwankendem Sitz mit weit abgespreizten oder hochgezogenen Beinen verharren, bis das Rad fast ausgerollt war, um dann wieder in die noch rotierenden Pedale zu steigen und erneut Schwung zu holen. Mit dieser schubweisen Technik schaffte ich den Weg von unserem Haus, den See entlang, durch Obernsee hindurch bis zur Villa von Fräulein Funkel in knapp zwanzig Minuten, wenn — ja, wenn nichts dazwischenkam! Und Zwischenfälle gab es viele. Es verhielt sich nämlich so, daß ich zwar fahren, lenken, bremsen, auf- und absteigen usw. konnte, nicht aber in der Lage war zu überholen, mich überholen zu lassen oder jemandem zu begegnen. Sobald nur das leiseste Motorengeräusch eines sich von vorn oder hinten nähernden Autos zu hören war, bremste ich sofort, stieg ab und wartete so lange, bis der Wagen passiert war. Sobald andere Radfahrer vor mir auftauchten, hielt ich an und wartete, bis sie vorübergefahren waren. Beim Überholen eines Fußgängers stieg ich kurz hinter ihm ab, rannte, das Fahrrad schiebend, an ihm vorbei und radelte erst weiter, nachdem ich ihn weit hinter mir gelassen hatte. Ich mußte eine vollkommen freie Strecke vor und hinter mir haben, um zu radeln, und es durfte mich möglichst niemand dabei beobachten.



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